Weiter so trotz aller Krisen?

Die imperiale Lebens- und Produktionsweise prägt unser Leben

 

HLZ 2022/5: Wir gegen den Klimawandel

Wir leben in einem Zeitalter vielfältiger gesellschaftlicher Krisen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen zeigen: explodierende Mieten, Klimawandel, Artensterben, Flucht und Vertreibung, Pflegenotstand oder Meere aus Plastik. Den meisten von uns sind diese Themen bekannt. Doch trotz sich immer weiter zuspitzender Prognosen des Weltklimarates IPCC zeichnet sich kein grundlegender Wandel ab. Die politische Betriebsamkeit entspricht zumeist einem „Weiter so“: Auf Krisen wird reagiert, doch in der Regel nicht aktiv gestaltend eingegriffen.

Genau darin liegt das Paradoxe an der gegenwärtigen Situation. Unser aller Alltag ist eingebettet in eine Lebens- und Produktionsweise, die die Politikwissenschaftler Markus Wissen und Ulrich Brand eine „imperiale Lebens- und Produktionsweise“ nennen. Die imperiale Lebensweise beschreibt ein Wohlstandsmodell der globalen Mittel- und Oberschicht, die auf Kosten anderer lebt und über ihren Konsum und globale Märkte übermäßig auf Arbeit, Ressourcen und ökologische Senken (1) zugreift.

Als imperial wird diese Lebensweise beschrieben, weil sie einen prinzipiell unbegrenzten Zugriff auf Ressourcen, Raum und Arbeitsvermögen an anderen Orten der Welt voraussetzt und diesen politisch und rechtlich absichert.

Die imperiale Lebensweise geht mit einer neokolonialen Ausbeutung von Arbeit und Natur einher: Smartphones werden vorwiegend im asiatischen Raum produziert, zumeist unter miserablen Arbeitsbedingungen und sehr schlecht bezahlt. Die selbstverständliche Nutzung von Smartphones, Tablets oder Laptops geht mit einer erhöhten Nachfrage nach metallischen Rohstoffen wie Zinn, Coltan oder Lithium einher, die primär in Ländern der südlichen Hemisphäre abgebaut werden. Die Folgen sind Umweltverschmutzung und die Zerstörung von Lebensgrundlagen anderer Menschen. Die sozialen und ökologischen Kosten dieser Lebensweise werden räumlich externalisiert oder in die Zukunft verlagert:

  • Veraltete, kaputte und weggeworfene Endgeräte werden nach Westafrika verschifft, wo Menschen unter gesundheitsschädlichen Bedingungen versuchen, verwertbare Rohstoffe aus dem Elektroschrott wiederzugewinnen.
  • Die Digitalisierung ist keineswegs immateriell oder gar klimaneutral, denn das steigende Datenvolumen verbraucht enorm viel Strom: Wäre das Internet ein Land, hätte es den drittgrößten Stromverbrauch der Erde. Serverfarmen laufen oft mit billigem, vergünstigtem Kohlestrom und tragen damit zum Klimawandel bei, dessen Auswirkungen heute schon vor allem im Globalen Süden auftreten und in Zukunft zunehmen werden.
  • Die imperiale Lebensweise ist exklusiv und breitet sich zugleich immer weiter aus: Nur etwa die Hälfte der Weltbevölkerung hat einen Zugang zum Internet. Die Zyklen, in denen alte Smartphones weggeworfen und neue gekauft werden, werden immer kürzer.
  • Warum trotz sich verschärfender Krisen und Konflikte ein stärkeres Umdenken und Handeln ausbleibt, lässt sich vor allem durch zwei Faktoren erklären:
  • Es gibt mächtige multinationale Unternehmen und politische Eliten, die ein Interesse daran haben, globale Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten, um die Kapitalakkumulation in Gang zu halten, Profite nicht zu gefährden, im Standortwettbewerb nicht unter die Räder zu kommen und die imperiale Lebensweise durch die bestehenden politischen und ökonomischen Institutionen abzusichern.
  • Doch neben der Produktionsweise ist es auch unser alltägliches Leben mit unseren Gewohnheiten, Werten, Wünschen und Bedürfnissen, das die imperiale Lebensweise am Laufen hält. Die kapitalistische Produktionsweise schreibt sich in den Alltag ein und wird dort normalisiert und naturalisiert und eben nicht mehr hinterfragt. Wir haben oft kaum eine andere Wahl, als an der imperialen Lebensweise teilzuhaben: So ist beispielweise das Smartphone ein wichtiger Zugang zur Welt.

Leben auf Kosten anderer

Die imperiale Lebensweise erfährt viel Zustimmung und ist so stabil, weil sie breit akzeptiert, normal und attraktiv ist. Die Vorstellungen von einem guten, konsumerfüllten Leben sind im Alltagsverstand, in unseren mentalen Infrastrukturen fest verankert. Ein Leben ohne Smartphone ist für viele undenkbar geworden. Es ist normal und gewöhnlich, über Messenger zu kommunizieren und Sprachnachrichten zu verschicken. Es ist attraktiv, ständig Informationen über Google und Wikipedia nachschlagen zu können, schnell etwas über Amazon zu bestellen oder übers Tablet Netflix zu streamen. Die sozial-ökologischen Voraussetzungen einer solchen Lebensweise bleiben dabei oft unsichtbar: Ich sehe beim Online-Shopping weder die prekären Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Logistikzentren von Amazon noch die Rohstoffkonflikte um den Coltanabbau, nicht die Fabrikarbeiter:innen in China, nicht die Serverfarmen für meine HD-Videos.

Die imperiale Lebensweise funktioniert auf Kosten anderer und ist in politischen Institutionen, materiellen Infrastrukturen und in den Alltagspraktiken und Alltagsvorstellungen fest verankert. Und trotz aller Krisen scheinen Alternativen kaum denkbar. Auch formelle Bildungskontexte wie Schulen und Universitäten tragen zu dieser Absicherung und der Stabilisierung der imperialen Lebensweise bei. Bereits in der Schule werden bestimmte Aspekte unserer Wirklichkeit als alternativlos, zustimmungswürdig oder „normal“ vermittelt. Dazu gehören das Wachstum als persönliches und wirtschaftspolitisches Ziel oder soziale Ungleichheit als Resultat individuellen Fehlverhaltens. Moderne, westliche Bildung orientiert sich an dem Ziel, Menschen auf die Erwerbsarbeit vorzubereiten, und sie geht mit der Logik einher, durch entsprechende Leistung ein gutes Leben im Sinne der imperialen Lebensweise führen zu können.

Die imperiale Lebensweise mutet Menschen sowohl hier und heute als auch andernorts viel und immer mehr zu: Unsicherheiten, Zukunftsängste, Prekarität, Arbeitsbelastung, Stress, Naturkatastrophen. Sie scheint oft alternativlos und zerstört zugleich schon lange und fortwährend die Lebensgrundlage von Menschen. Die zunehmende Sichtbarkeit von Krisen macht deutlich, dass sich etwas ändern muss und sich auch etwas ändern wird. Die Frage ist, was und wie!

Es gibt verschiedenste Interessen, die Menschen zusammenbringen, um etwas zu verändern. Menschen, die von steigenden Mieten betroffen sind, unter der Verkehrssituation oder unsichtbarer Sorgetätigkeit leiden und so die Auswirkungen der imperialen Lebensweise spüren, politisieren und organisieren sich und zeigen, dass solidarische Alternativen schon heute als konkrete Utopien in den Nischen der imperialen Lebensweise entstehen. Ihre Praktiken sind wichtige Bausteine für sozial-ökologische Transformationsprozesse, weil sie aufzeigen, dass eine andere Art des Zusammenlebens möglich ist. So erweitern sie den Raum des Denk- und Machbaren und helfen, mentale Infrastrukturen zu verändern und solidarisches Handeln im Alltag zu erlernen.

Die sozial-ökologische Transformation

Mit dem Begriff der sozial-ökologischen Transformation sind Prozesse umfassenden gesellschaftlichen Wandels gemeint, die die herrschenden Verhältnisse überwinden und auf soziale und ökologisch nachhaltige Gesellschaften abzielen. Die durch Zwang und Zustimmung generierte Hegemonie der imperialen Lebensweise wird brüchig in Krisenzeiten, das Versprechen eines Guten Lebens auf Kosten anderer ist immer weniger glaubhaft. Hierin liegt der Ansatzpunkt für eine sozial-ökologische Transformation, die Normalitätsvorstellungen verändert und mit den Zwängen der imperialen Lebensweise bricht.

Diese Transformation wird nicht konfliktfrei ablaufen, die Advokat:innen der imperialen Lebensweise sind mächtig und laut. Der Wandel fängt im Kleinen an und ist Ergebnis von Kämpfen um politische Spielregeln und kulturelle Deutungen. Die starke Spaltung zwischen ökologischen und sozialen Fragen muss überwunden und die Zusammenhänge zwischen bestehenden Krisen müssen in den Blick genommen werden. Wir brauchen neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen, um den Erhalt und die Entfaltung menschlichen Lebens ins Zentrum gesellschaftlichen Zusammenlebens zu stellen.

Ein Schlüssel ist eine neue Arbeitsteilung, die nicht einer Profitlogik folgt, sondern am Gemeinwohl ausgerichtet ist: Sorgende Tätigkeiten, Pfleger:innen, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Putzkräfte, Erntehelfer:innen, Landwirt:innen wären die zentralen Leistungsträger:innen. Sie brauchen attraktive Arbeitsbedingungen, kleine Gruppen, genug Zeit für zwischenmenschliche Interaktion und eine intakte und gut ausgestattete Infrastruktur. In Zeiten von globaler Überproduktion kann die Lohnarbeitszeit kontrolliert verkürzt und neu auf verschiedene Lebensbereiche verteilt werden. Die Soziologin Frigga Haug schlägt vor, Arbeitszeit gleichmäßig zwischen Sorgearbeit, politischem Engagement, kulturellem Schaffen und Erwerbsarbeit zu verteilen. So hätten alle Zeit, sich an sorgenden Tätigkeiten zu beteiligen und sich politisch für die sozial-ökologische Transformation zu engagieren. Manche Berufe würden in einer sorgenden Gesellschaft dagegen an Bedeutung verlieren, weil ihr Nutzen primär darin besteht, Profite zu maximieren, ohne einen gesellschaftlichen Mehrwert zu kreieren. Oder worin besteht der gesellschaftliche Mehrwert von immer schnelleren und größeren Autos für einen kleinen Teil der Weltbevölkerung?

Gerade angesichts der Klimakrise müssen wir uns fragen, welche Betriebe und Branchen wir brauchen und wie zukunftsunfähige Konzerne ihre Produktion sozial gerecht wandeln können. Dabei müssen die Beschäftigten die Möglichkeit bekommen, an der Neuausrichtung der Unternehmen mitzuwirken. Was wäre, wenn ein gutes Leben für alle und nicht der Profit für wenige unsere politischen Entscheidungen leiten würde? Wir wissen es nicht, aber vielleicht wäre dann für alle gesorgt. Langfristige gesellschaftliche, nicht individualisierte, sozial-ökologisch nachhaltige Strukturen aufzubauen, gilt es in den Parlamenten und auf den Straßen zu erstreiten.

Nilda Inkermann


Nilda Inkermann arbeitet an der Universität Kassel und promoviert zum Thema sozial-ökologische Transformation und Bildung. Sie ist Teil des Kollektivs „Imperiale Lebensweise und Ausbeutungsstrukturen im 21. Jahrhundert“ (I.L.A.) und Mitbegründerin des Netzwerks Mind Behaviour Gap

(1) Wälder, Ozeane und Polargebiete sind natürliche Senken, die unter entsprechenden klimatischen Bedingungen große Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid aufnehmen und so dessen Anteil in der Atmosphäre verringern können.

 

(Dieser Beitrag erschien zuerst unter Weiter so trotz aller Krisen? | GEW Hessen (gew-hessen.de))