Rede anlässlich der Mahnwache der GEW am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Tony Schwarz am 27.01.2024

Als sich heute vor 79 Jahren die Tore des Konzentrationslagers Auschwitz öffneten, standen die Befreier der Roten Armee fassungslos vor dem Grauen, das sich ihnen darbot – eine Fassungslosigkeit im Wortsinne, denn mit dem Verstand ist die Dimension dessen nicht zu erfassen, was innerhalb von nur 12 Jahren Faschismus unleugbar an Herabwürdigung, Verfolgung, Vertreibung, Ermordung und schließlich industrieller Massenvernichtung von Millionen von Menschen von Deutschland ausging. Eine Unzahl von Historikern, Psychologen, Soziologen, Autoren, Filmemachern, Publizisten und vielen anderen hat sich seitdem wieder und wieder mit der Frage beschäftigt, wie so etwas nur möglich sein konnte. 

Einigkeit besteht in der historischen Forschung darin, daß es keine einfachen, alleingültigen Erklärungen für Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus gibt. 

So kann weder die nationalsozialistische Ideologie und Propaganda allein die Massenwirksamkeit des Nationalsozialismus erklären, denn dort wurde nur verkündet, was man auch anderswo hören konnte; noch kann es die vermeintliche politische Genialität oder Suggestivkraft Hitlers, denn selbst wenn diese von der Parteipropaganda unaufhörlich herausgestellt wurde, bedurfte es erst einer entsprechenden Erwartungshaltung beim Publikum, um eine politische Wirkung zu erzielen. Auch der Terror der Sturmabteilung (SA) kann den Aufstieg des Nationalsozialismus allein nicht erklären. Ebensowenig die politischen und sozialen Umstände, die immer wieder genannt werden: der Versailler Vertrag (1919) und die kommunistische Revolutionsdrohung aus Moskau, die Massenarbeitslosigkeit oder die sozio-ökonomischen Interessen der Großindustrie und des Großgrundbesitzes, des Kapitals. Keiner dieser Faktoren kann bei einer historischen Erklärung übersehen werden, aber für sich allein reicht weder der eine noch der andere für die Erklärung des nationalsozialistischen Aufstiegs zur Macht noch der Politik des Führerstaates aus. Sie verschränkten sich vielmehr wechselseitig. In einem doppelgleisigen Prozeß des Machtverfalls bzw. -verlustes der Demokratie einerseits und der politisch-sozialen Expansion der nationalsozialistischen Bewegung andererseits wurde der politische Handlungsspielraum zuerst der demokratischen, dann aber auch der konservativ-autoritären Kräfte zunehmend eingeengt. Dieser Prozeß wurde beschleunigt durch politische Fehleinschätzungen, persönliche Machtkämpfe und Intrigen. 

Manches davon scheint uns weit entfernt und unverständlich. Die Erschütterungen nach einem verlorenen, zudem in seinen grausamen Ausmaßen bis dato unbekannten Krieg, die chaotischen Verhältnisse mit linken Aufständen und rechten Putschversuchen, die Empörung über den Versailler Vertrag, die Instabilität des Weimarer Systems mit seinen häufigen Regierungswechseln und manch anderes sind in den Spezifika der damaligen Zeit begründete Faktoren, für die uns heute glücklicherweise keine aktuellen Parallelen einfallen wollen.

Doch auch wenn sich der direkte Vergleich über die Jahrzehnte hinweg verbietet, scheint uns manch Anderes auf unheimliche Weise dennoch bekannt zu sein.
Die Auswirkungen eines global agierenden Kapitalismus, die Furcht vor sozialem Abstieg und Verelendung, das berüchtigte immer weiter Auseinanderklaffen von Arm und Reich, global wie national gesehen, diese gleichermaßen Angst und Neid wie Überheblichkeit und Hohn evozierende Gemengelage ist auch uns sattsam bekannt.

Die innere Beklemmung der Menschen angesichts einer sich rasant ändernden Zeit, in welcher der technische Wandel unmittelbaren Einfluss auf Kommunikation, Kultur, das Leben an sich hat, einer Zeit, in der altbekannte Werte verloren zu gehen scheinen und sich viele Menschen entwurzelt fühlen, diese Verunsicherung ist auch uns nicht fremd.

Fremd ist uns auch nicht die Verrohung und Vereinfachung der Sprache und der Parolen, wie sie Victor Klemperer in seinem Werk „LTI“ beschrieben hat, fremd ist uns nicht das Schleifen zivilisatorischer Werte auf allen Seiten – neu hingegen ist die unglaubliche Geschwindigkeit und Ubiquität, in der dies dank der digitalen Medien heutzutage geschieht. Wenn öffentlicher Diskurs sich auf wenige Twitter-Zeilen beschränkt und mit größtmöglichen Zuspitzungen um Aufmerksamkeiten, um Clicks, buhlt, dann tritt zwangsläufig eine Verrohung ein, die den Gegner weder überzeugen noch argumentativ schlagen, sondern im besten Falle mundtot machen, im schlechtesten Falle vernichten will, wenn auch (noch) im übertragenen Sinne. Davor ist heute niemand gefeit.

Wir sollten alle auf unser Tun und unsere Sprache achten und nicht den Fehler begehen, Hass und Ausgrenzung mit gleicher Münze heimzahlen zu wollen. Wenn die Faschos in den 90er Jahren auf ihren Aufmärschen skandierten „Wir haben Euch etwas mitgebracht: Hass Hass Hass“ sollte unsere Antwort kein munteres Skandieren von „Ganz Frankfurt hasst die AFD“ sein und auch Demoplakate mit Aufrufen wie „AFDler töten“, wie jüngst in Aachen zu sehen, teilen sich so den Boden mit genau denjenigen, die man doch bekämpfen möchte. Anders gesagt: ein Demokrat kann und darf Eugen Drewermann, den großen alten Mann der Friedensbewegung, kritisieren, weil man dessen Haltung zu z.B. Coronamaßnahmen nicht teilte – ein Demokrat skandiert dann aber nicht „Schluss mit dem Geschwafel – Drewermann in die Havel“, wie berichtet wurde. 

Auch diese Parallele zu Weimar gibt es: dass Menschen nicht mehr hinter dem stehen, was ihnen als Demokratie dargestellt wird, weil diese Demokratie ihnen gefühlt nichts mehr zu bieten hat.

Demokratische Politikerinnen und Politiker sollten sich daher bemühen, solide Antworten zu finden für eine Bevölkerung, die besorgt ist hinsichtlich so vieler Themen wie Altersarmut, steigenden Mieten, knappem Wohnraum, verrottender Infrastruktur, miesen Bildungsbedingungen und –chancen, Energieversorgung, und auch Aufrüstung und zunehmender Militarisierung. Wer nichts anderes zu bieten hat, als Andersdenkende als „gefallene Engel aus der Hölle“ (Scholz) zu bezeichnen, wer meint, es reiche, die einen gegen die anderen auszuspielen wie Herr Lindner, indem er den „fleißigen Mittelstand“ denen gegenüberstellt, die angeblich „Geld bekommen fürs Nichtstun“ und sich für die Kürzung der Leistungen für Asylbewerber lobt, wird die Menschen dadurch nicht abhalten, nach einer wenn auch noch so falschen Alternative zu greifen, schon gar nicht, wenn er diese dann gleich als „Fliegen auf einem Haufen Scheiße“ bezeichnet (Strack-Zimmermann).

Jeder einzelne Bürger, jede einzelne Bürgerin ist dazu aufgerufen in seinen Handlungen, in seiner Sprache, Widerstand zu leisten gegen Entwicklungen, die den Prinzipien einer aufgeklärten und offenen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaft entgegenlaufen. Hierzu soll uns dieser Gedenktag Ansporn sein.

Dazu gehört auch, lassen Sie mich dies zum Ende hin noch anmerken, den einzig gültigen Schluss aus der deutschen Geschichte, „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ ernst zu nehmen und in seiner Aussage nicht aufzutrennen. „Krieg ist Krankheit, keine Lösung“, sagt Eugen Drewermann, und in diesem Sinne ist es uns als Gewerkschaftern, die sich auch als Teil der weltweiten Friedensbewegung verstehen, eine Pflicht, deutscher Kriegsbeteiligung wie und wo auch immer entgegenzuwirken und darauf zu drängen, dass unser Land seine Rolle im Ausgleich und in der Vermittlung sucht. Nicht „kriegstüchtig“ muss Deutschland werden, es muss „friedenstüchtig“ sein und bleiben. Dazu gehört auch, der schleichenden Militarisierung unserer Gesellschaft entgegenzutreten und nicht zuzulassen, dass ein Ungeist wieder Einzug hält, der Gewalt als probates Mittel der eigenen Interessensvertretung ansieht, ein Ungeist von Machtgehabe, von Führung und Gehorsam, von falsch verstandenem Abenteuer- und Heldentum. Denn auch dieser Ungeist war ein Pflasterstein auf dem allzu kurzen Weg nach Auschwitz. 

Ich bitte Sie, wenn wir nun den Kranz niederlegen, mit uns in einer Schweigeminute der Opfer von Faschismus und Fanatismus, von Krieg und Verfolgung, zu gedenken, im gemeinsamen Bestreben dafür, dass solches nie wieder geschehen darf. 

Ich danke Ihnen.