Holger Giebel am 02.02.2024 in Heppenheim
Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,wir alle kennen die Sprüche in- und auswendig: Pünktlich zu jeder Wahl stehen die Vertreterinnen und Vertreter aller politischer Parteien in vorderster Front und singen das Hohelied der Bildung. Es wird betont, von welch überragender Bedeutung die Bildung in einem ressourcenarmen Land sei, denn sie sei praktisch die einzige Ressource, die wir haben. Manch einer bemüht die Floskel des Lands der Dichter und Denker und kramt ganz nebenbei noch die Namen Goethe und Schiller hervor, die offenkundig von ganz außergewöhnlicher Genialität waren, weshalb sie wohl zum Inbegriff des deutschen Dichter- und Denkertums geworden sind. Alles gut und schön. Während sich über Goethe und Schiller vielleicht noch streiten lässt – die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, wobei ich als Lehrer des Fachs Deutsch durchaus auch ein Faible für die beiden alten Herren habe –, über die Bedeutung der Bildung in einem ressourcenarmen Land dürfte parteiübergreifender Konsens herrschen. Wenn jedoch Personen unterschiedlichster parteipolitischer Couleur die Wichtigkeit von Bildung erkennen, dann frage ich mich als Gewerkschafter, weshalb gerade dieser Bereich genau einer derjenigen ist, der über all die Jahre hinweg auf allen Ebenen sukzessive kaputtgespart wurde.
Ein kleiner Blick zurück auf den 5. Dezember 2023: Die OECD präsentiert in Berlin die neueste PISA-Studie. Die Ergebnisse, die allesamt auf im Jahr 2022 erhobenen Daten basieren, sind für Deutschland niederschmetternd. 2018 übertrafen die deutschen Schülerinnen und Schüler noch den OECDDurchschnitt, jetzt finden sie sich in den Bereichen Mathematik und Lesen gerade noch im Mittelfeld wieder – weit entfernt von den Spitzenplätzen, auf denen sich Deutschland doch immer so gern sonnt. Doch was ist geschehen?
Sicher, da hat auch die Corona-Pandemie ihr Scherflein beigetragen, samt der Schulschließungen, die inzwischen von allen Experten einhellig als völlig überzogen bezeichnet werden, so dass selbst Gesundheitsminister Lauterbach einräumen musste, dass bei dieser Maßnahme doch eher mit Kanonen auf Spatzen geschossen wurde. Trotz allem wäre es jedoch ein wenig zu einfach, die Schuld nur in den Monaten des pandemiebedingten Homeschoolings zu sehen, bei dem einige Kinder abgehängt wurden, andere sich ausklinkten, aber allen insbesondere auch im Bereich der sozialen Interaktion das schulische Miteinander als Raum des sozialen Lernens fehlte. Aus gewerkschaftlichem Blickwinkel werden durch die in der Tat besorgniserregenden PISA-Ergebnisse all die Dinge klar und deutlich erkennbar, vor denen wir als GEW schon seit einer kleinen Ewigkeit warnen. All die Dinge, die sich schon lange als düstere Wolken am Bildungshorizont abzeichneten, während das Kultusministerium schön Wetter machte, also genau das, was es seit jeher macht und höchstwahrscheinlich auch nach dem Wechsel an der Spitze von Lorz zu Schwarz weiterhin machen wird. Ich bin mir leider sicher, dass auch nach dem personellen Wechsel im Ministerium nicht erkannt werden wird, dass das System schlicht und ergreifend nicht mehr funktioniert. Es bedarf insbesondere eines entschiedenen politischen Willens, wenn man künftig aus der PISA-Falle entkommen will. Eines entschiedenen politischen Willens, der den Schulen die Möglichkeit gibt, wieder ihrer eigentlichen Bestimmung nachzukommen und nicht nur zunehmend zu einem Ort der Kinderaufbewahrung zu verkommen. Wer gute Bildung möchte, der braucht Personal, das genau diesem Auftrag auch nachkommen kann, das die Zeit hat, tatsächlich professionell den Job zu erledigen, das ein Umfeld hat, in dem gute Bildung tatsächlich gedeihen kann.
Doch wie sieht die Realität aus? Die Bediensteten wurden über Jahre ausgepresst wie eine Zitrone. Über Jahre haben sie sich beharrlich immer ein bisschen mehr auspressen lassen. Über Jahre kam zu den ohnehin nicht wenigen Aufgaben immer noch ein bisschen was hinzu. Über Jahre waren sie bereit, immer noch eine weitere Kröte zu schlucken, weil man sich verantwortlich fühlt für die Kinder. Deshalb nahm man es hin, zwar mit Ächzen, teils mit Murren und deutlicheren Unmutsäußerungen im Kreise der Kolleginnen und Kollegen, doch man nahm es hin. Über Jahre.
Doch das hat seinen Preis. Der Krankenstand nimmt – auch jenseits eines pandemischen Infektionsgeschehens – seit längerer Zeit dramatisch zu. Lehrerinnen und Lehrer haben etwa mit die höchste Burnout-Quote aller Berufsgruppen. Nicht selten sind gerade junge Lehrkräfte betroffen, von denen nach einer Studie der Universität Halle-Wittenberg bereits ein Drittel in den ersten fünf Berufsjahren den Lehrberuf wieder an den Nagel hängt. Von den Burnoutfällen kehren etliche nicht mehr in den Dienst zurück.
Gleichzeitig haben es die bildungspolitisch Verantwortlichen geschafft, einen einst sehr angesehenen Beruf derart unattraktiv zu machen, dass die jungen Menschen keine Lust haben, einen Lehramtsstudiengang anzutreten. Dass dies irgendwann das Personal knapp werden lässt, ist die logische Folge.
Das Hessische Kultusministerium steuert einem Lehrkräftemangel glücklicherweise entschlossen entgegen – mit sehr hübschen, aber leider sehr realitätsfernen Youtube-Werbeclips unter dem originellen Slogan „Werde Lehrer in Hessen“. Hinzu kommt der so genannte Zukunftsbus, der hessenweit die Gymnasien anfährt, um dort bei den potenziellen Lehramtsstudierenden der Zukunft Werbung zu machen. Dort wird man mit einer Virtual-Reality-Brille in die Welt einer jungen, attraktiven Lehrerin entführt wird, die beschwingt durch die Gegend läuft, von einer freudigeuphorisierten Schülerschar verfolgt wird und die nach einem Schwall von sinnfreien Allgemeinplätzen vor jubelnden Kindern im Konfettiregen steht – liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Witz, ich gebe hier tatsächlich den Inhalt des Werbefilms im Virtual-Reality-Format wieder. Wenn das die Antwort darauf sein soll, wie man dem Lehrkräftemangel begegnen möchte, dann ist das Vorhaben zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die jungen Menschen, die sich auf das Ende ihrer Zeit als Schülerin oder Schüler zubewegen, brauchen keine Youtube- Filmchen oder völlig unrealistische Virtual-Reality-Welten im Zukunftsbus. Diese jungen Menschen wissen, wie die schulische Realität aussieht, denn sie haben sie bereits über viele Jahre erlebt. Diese jungen Menschen wissen, dass die dauerlächelnden Gesichter der Schauspielerinnen und Schauspieler nichts mit dem gehetzten und überlasteten Pauker zu tun haben, dem man in der Schule tagtäglich begegnet. Und finanziell ist der Beruf auch längst nicht mehr so attraktiv, wie er vielleicht einst einmal war, da der Reallohnverlust von staatlicher Seite nun mal fleißig gefördert wurde.
Die personellen Lücken, die an den Schulen klaffen, sind gewaltig. Herr Lorz wurde in seiner Zeit als Kultusminister jedoch nicht müde zu betonen, dass es personell an den Schulen in Hessen prinzipiell ganz hervorragend aussehe. Zwar gebe es an der einen oder anderen Schule vielleicht tatsächlich mal eine unbesetzte Stelle, doch das seien Einzelfälle. Von einem Problem könne nicht mal ansatzweise die Rede sein. All das sei nichts weiter als reine Panikmache der Gewerkschaften. Das ist natürlich eine interessante Aussage in Zeiten großer Werbeaktionen, in der Zeit flotter Youtube- Filmchen, in der Zeit des Zukunftsbusses. Ich habe angesichts dieses Umstandes den Verdacht, dass die GEW keine Panik mehr machen muss, sondern das Ministerium längst davon ergriffen ist, keinen Ansatz hat, wie darauf reagiert werden soll und stattdessen beschwichtigende Worte gesucht werden, die am Ende nichts weiter sind als das Pfeifen im Walde.
Aus dem Ministerium tönt es ein ums andere Mal, dass es in Hessen noch nie so viele Lehrerstellen gegeben habe, wie es gegenwärtig der Fall sei. Rein mathematisch ist diese Behauptung sogar völlig zutreffend. Doch was bringen einem die schönsten Stellen, wenn es keine Lehrkräfte gibt, die diese am Ende besetzen können? Wie sieht nun die Realität an den Schulen aus? Blicken wir auf unseren Schulamtsbezirk Bergstraße/Odenwald, der ganz gewiss nicht der unattraktivste Schulstandort unseres Bundeslandes ist. Dort werden Studierende an Grundschulen nicht nur im Vertretungsunterricht eingesetzt, sondern sie sind aktiv im regulären Unterricht, teilweise haben sie sogar Klassenleitungen. Auch gab es bereits Fälle, dass an Schulen einzelne Fächer nicht mehr unterrichtet wurden, weil die Lehrkraft, die dazu fähig wäre, in ihrem zweiten Fach viel dringender benötigt wurde. Nicht zuletzt wurden bereits ganze Klassen nach Hause geschickt, weil es bei zusätzlich hohem Krankenstand noch nicht mal mehr möglich war, auch nur eine Betreuung für die Kinder zu gewährleisten.
Zugegeben, das sind heftige Beispiele, die glücklicherweise noch nicht den schulischen Alltag widerspiegeln. Noch sind es Einzelfälle. Doch auch hier ist es wie bei den unbesetzten Lehrerstellen: Die Anzahl der Einzelfälle steigt und steigt und steigt. Diese Beispiele sollten zweifellos ein klares Alarmsignal sein, dass wir uns auf dem Weg befinden, dass dies in Zukunft ganz normale Szenarien an den Schulen sein könnten. Doch auch wenn die Glocke noch so sehr lärmt und ihren gellenden Alarmruf in die Lande brüllt, Wiesbaden übt sich weiter im Beschwichtigen. Man fragt sich, wie es möglich ist, dass die Verantwortlichen im Kultusministerium diese Chuzpe haben, wenn selbst die eigenen Zahlen ein recht düsteres Bild zeichnen: Laut Prognose der Kultusministerkonferenz, die erfahrungsgemäß dann doch lieber die rosa Brille aufzieht, als sich in Schwarzmalerei zu üben, werden in Deutschland bis zum Jahr 2035 mindestens 50.000 Lehrerstellen unbesetzt sein. Schon diese Zahl ist in höchsten Maße erschreckend, doch die Erfahrung zeigt, dass prognostizierte Zahlen der Kultusministerkonferenz sich in der Realität häufig verdreifachen. Dann wären wir auch in dem Bereich, den renommierte Wissenschaftler prophezeien, die auch in der Vergangenheit schon deutlich näher an der Realität lagen als die Kultusministerkonferenz.
Doch selbst die eigenen Zahlen, die trotz Schönfärberei noch mächtig gruseln lassen, selbst diese Zahlen taugen offenkundig nicht dazu, endlich den Kurs zu ändern. Stattdessen wird der bewährte Giftschrank geöffnet, der in nicht unerheblichem Maße dafür verantwortlich war, dass wir deutschlandweit in diese Krise geschlittert sind. Oder in anderen Worten: Die Fehler der Vergangenheit sollen ausgemerzt werden, indem man einfach die Fehler noch mal macht.
Prinzipiell dürfte es selbst denjenigen klar sein, die mit dem Bildungsbereich rein gar nichts am Hut haben, dass sich die Lehrberufe dann wieder größerer Beliebtheit erfreuen werden, wenn sie tatsächlich für junge Menschen wieder attraktiv werden. Und es müsste auch recht gut nachvollziehbar sein, dass dazu nicht unbedingt die Mittel taugen, die die ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz als Sofortmaßnahmen zur Kompensation des Lehrkräftemangels – in Hessen wird dieser wahrscheinlich als „temporäre Häufung von Einzelfällen“ bezeichnet – vorgeschlagen hat. Wir öffnen den Giftschrank und zaubern hervor: größere Klassen, eine Ausweitung der Arbeitszeit von Lehrkräften und sozialpädagogischem Personal und eine Verringerung der Teilzeitmöglichkeiten. Bei diesen Voraussetzungen kommen auf den Zukunftsbus höchstwahrscheinlich ganz außerordentliche Herausforderungen zu. Ehrlich gesagt: Wenn in der gegenwärtigen Situation tatsächlich solcherlei Maßnahmen als Gegenstrategie vorgeschlagen werden, dann erlaube ich mir – mit Verlaub –, den geistigen Zustand der betreffenden Person mindestens „bedenklich“ zu nennen.
Was ist denn in den letzten Jahren im Bereich Bildung geschehen? Eine vollständige Darstellung würde den Rahmen sprengen. Daher nur ein kleiner Einblick: In unserem von Krisen gebeutelten Land und nicht erst mit der Corona-Krise wurden die Probleme des Bildungssystems mehr als deutlich. Vor allem durch überzogene Schulschließungen, aber auch durch neue Aufgaben wie Inklusion, Integration von Geflüchteten und überbordende Bürokratie haben Lehrkräfte immer mehr Lücken zu füllen, Rückstände aufzufangen und verwaltungstechnische Dinge zu bearbeiten. Die Zeit, die Lehrkräfte in ihren Lerngruppen verbringen und sich direkt mit dem Kerngeschäft Unterricht beschäftigen, ist seit Jahren prozentual rückläufig.
Aktuelle Studien deuten an, dass lediglich ein Drittel der Arbeitszeit von Lehrkräften unmittelbar mit dem Unterrichten in Bezug steht, der Rest umfasst Dokumentationspflichten, Auffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern, Konferenzen, Elternarbeit etc. Dazu kommt, dass die gesellschaftliche Wunschliste an Schule immer größer wird. Mittlerweile wird bei jedem gesamtgesellschaftlichen Problem der Ruf nach der Schule als Lösungsort laut, z.B. werden aktuell Unterrichtsfächer gefordert zu Themen wie Gesundheit, Klima, Prävention, Steuerrecht, Ernährung, Prävention u.v.m. Sicherlich sind viele dieser Themen wichtig und schulrelevant; nur wer mehr von Schule will, der muss eben auch mehr in Schule investieren. Aber seit Jahren wurde nicht angemessen auf diese Entwicklung von Seiten der Verantwortlichen reagiert. Ganz im Gegenteil: Aufgaben wurden übertragen und die Ressourcen stagnieren.
Überall, in allen Branchen befinden sich Arbeitgeber im Wettbewerb um Fachkräfte und die besten Köpfe. Das führt automatisch dazu, dass Arbeitgeber sich attraktiv zeigen müssen und maximal flexibel auf Bedürfnisse des Bewerberkreises eingehen. Auch das Land Hessen nennt sich selbst „vorbildlicher und familienfreundlicher“ Arbeitgeber. Das Attraktionsangebot der Zukunft für neue Lehrkräfte soll also lauten: Mehr Schüler, mehr Aufgaben, mehr Verantwortung und weniger Entlastung und keine Flexibilität. Noch einmal: Es ist mir in höchstem Maße schleierhaft, wie mit solch einer drastischen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ernsthaft jemand glauben mag, dass dadurch der Mangel an Lehrkräften in irgendeiner Weise behoben werden könnte. Verlierer sind am Ende aber nicht nur die Lehrkräfte, sondern natürlich auch die Schülerinnen und Schüler. Denn schlechtere Rahmenbedingungen für Lehrkräfte bedeuten letztlich mehr Stress, Krankheit und Ausfälle – das ist ein deutlicher qualitativer Verlust, der uns am Ende als Bildungsland Deutschland doch alle angehen sollte.
Eine kleine Anmerkung am Rand: In der Empfehlung der Kommission heißt es sinngemäß, dass keine wissenschaftliche Studie belege, dass es einen Zusammenhang zwischen der Größe der Lerngruppe und dem Lernerfolg gebe. Da sind sie wieder, die stets beliebten Argumente aus der Mottenkiste. Dazu gibt es nur eines zu sagen: Man braucht doch dafür auch keine Studie, sondern lediglich nur ein kleines bisschen gesunden Menschenverstand. Wer will, dass Schule mehr ist als ein Ort reiner Wissensvermittlung und Leistungsbewertung, der sollte erkannt haben, dass Beziehungspflege, individueller Zugang und Wertschätzung sowie Ziele wie gegenseitiger Respekt, Mündigkeit und eine eigene Haltung mit einer Gruppe von 15 Personen eher zu verwirklichen sind als mit 30 oder mehr. So einfach ist das! Und ganz nebenbei: Auch was die Wissensvermittlung betrifft, kann ich bei einer kleinen Lerngruppe deutlich mehr erreichen, da ich tatsächlich dazu übergehen kann, einzelne Schülerinnen und Schüler gezielt individuell zu fördern, womit wirklich gute Fortschritte erreicht werden. Bei einer Massenveranstaltung habe ich diese Möglichkeiten im Regelfall überhaupt nicht.
Doch zurück zur ach so schockierenden PISA-Studie: Sie förderte eines umso deutlicher zutage: Die Ungerechtigkeit in der Bildung ist extrem ausgeprägt. In anderen Worten: In kaum einem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg dermaßen von den finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses ab, wie dies in Deutschland der Fall ist. Das kommt euch irgendwie bekannt vor? Kein Wunder, denn zum einen weist die GEW schon seit Jahrzehnten genau darauf hin und fordert die politisch Verantwortlichen zum Handeln auf. Zum anderen kam dieses Ergebnis bislang bei jeder PISAStudie heraus. Was hat sich getan, nachdem sich die erste Betroffenheit gelegt hatte? Genau: nichts! Die soziale Ungerechtigkeit im deutschen Bildungssystem ist weiterhin extrem. Weiter sind der Bildungsgrad des Elternhauses und dessen finanzielle Ausstattung wesentliche Faktoren für den Bildungserfolg. Die aktuelle PISA-Studie bezeichnet nicht zuletzt die Situation von Kindern Geflüchteter als alarmierend. Diese seien nach den Ergebnissen verschiedener Studien zu wenig integriert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hessen bezeichnet sich immer so gern als „das Bildungsland“. Ich würde mir wünschen, dass dies endlich auch einmal beherzigt würde und nicht rein zum Slogan auf dem behördlichen Briefpapier verkommen würde.
Aber das große Zauberwort lautet ja nun Digitalisierung. Bisweilen hat man den Eindruck, dass es nur notwendig ist, den Kindern nun ein Tablet hinzulegen, die Klassenräume mit interaktiven Tafeln auszustatten und einen Glasfaseranschluss zu legen, schon wird der Geist der Bildung jeden noch so widerspenstigen Pennäler beseelen. Manchmal nimmt es beinahe schon religiöse Züge an, was die Digitalisierung betrifft. Und jedes noch so kleine kritische Wort wird als Blasphemie aufgefasst. Reaktionen wie „Fortschrittsverweigerer“ oder „Technikfeind“ zählen dabei noch zu den harmloseren Ausdrücken. Eines vorab: Ich bin ganz und gar nicht technikfeindlich, finde Fortschritte (zumindest wenn es tatsächlich welche sind) außerordentlich erstrebenswert. Doch auch beim Thema Digitalisierung gilt es, ein wenig genauer hinzuschauen.
Dass umfassende Bemühungen im Bereich der Digitalisierung nun die Schlüssel zum bildungstechnischen Schlaraffenland sein sollen, braucht heutzutage ja kaum noch erwähnt werden. Zumindest Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sieht das so. Von dessen weitreichender Expertise im Bereich der Bildung habe ich zuvor zwar noch nie etwas mitbekommen, aber ich bin schließlich auch nicht allwissend. Dulger fordert einen „fast schon revolutionären Neuanfang in unserem Bildungswesen“. Nun, da kann ich ja durchaus mitgehen, doch als er dann in der Folge sagte, dass die Digitalisierung zentral sei, man dies den Kindern schuldig sei, da „diese Köpfe der Baustoff unserer Zukunft und der Motor unseres Wohlstands“ seien, dann hatte und habe ich meine Zweifel, ob Herr Dulger und ich unter einem revolutionären Neuanfang vielleicht doch etwas anderes verstehen. Wie gesagt, ich bin alles andere als ein Fortschrittsverweigerer und Technikfeind, doch Tablets für die Schülerinnen und Schüler allein machen noch lang keinen Bildungserfolg. Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Uni Augsburg, sagte etwa: „Eine Digitalisierung, die nur auf die Technik schielt, ist naiv, weil sie verkennt, dass im Bildungsbereich entscheidend für die Wirksamkeit der Technik die Pädagogik ist. Wir haben jetzt – angestoßen durch die Corona-Pandemie – mehrere Milliarden an digitalen Geräten in die Schulen gebracht, ohne auch nur im Ansatz zu untersuchen, wie das wirkt. Ganz im Gegenteil: Häufig wurden in einem Digitalisierungswahn – der dem Gebot folgt, so schnell wie möglich und so viel wie möglich zu digitalisieren – empirische Ergebnisse schlicht und ergreifend weggewischt. Als Beispiel ist hier die PowerPoint-Diktatur zu nennen, die vielerorts zum schlechtesten Frontalunterricht aller Zeiten führt. Oder die PDF-Flut, die zu einem Lesen an digitalen Geräten führt, das nachweislich weniger lernförderlich ist als das Lesen von Papier. Das muss sich dringend ändern.“
Auch die Hirnforschung schlägt bei der Digitalisierung Alarm. Gertraud Teuchert-Noodt, Professorin für Neurobiologie an der Uni Bielefeld, ist eine klare Verfechterin für einen möglichst späten Einsatz digitaler Geräte im Unterricht. „Den Verfechtern der Digitalisierung könnte man vielleicht empfehlen, ihren Beruf zu wechseln und dem dramatischen Lehrermangel Abhilfe zu leisten. Allerdings sollten sie vorab bekehrt sein und dann das fast Unmögliche leisten wollen, Kindern diese Geräte aus den Händen zu nehmen, um Schulen wieder auf Niveau zu bringen“, so die Professorin, die in ihren Ausführungen deutlich macht, dass eine Wechselwirkung in der Nutzung von schulischen und außerschulischen digitalen Medien viel eher zu einer Intelligenzminderung statt zu deren Förderung führen kann. Von anderen negativen Einflüssen auf Feinmotorik und Bewegungsabläufe ganz zu schweigen. Wie schön, dass es wenigstens dafür zur Abhilfe tatsächlich eine App gibt, mit der man nun auf dem Tablet seine handschriftlichen Fertigkeiten verbessern kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ihr seht, dürften sich Satiriker inzwischen ernste Sorgen um ihren Job machen, denn dieses Beispiel zeigt, dass die Realität inzwischen die beste Satire ist. Schweden ist inzwischen zurückgerudert. War man über Jahre so stolz aufs digitale Klassenzimmer, sind nach der Erkenntnis, dass der Lernerfolg zunehmend zu wünschen übrig lässt, zumindest in den Klassen 1 bis 4 die Schulbücher wieder zurückgekehrt. Das entspricht den Hinweisen der Hirnforscher, die empfehlen, insbesondere die jüngsten Schülerinnen undSchüler möglichst komplett von den Bildschirmen fernzuhalten. Doch warum besteht so ein großes Interesse daran, die Schulen möglichst umfassend zu digitalisieren, wenn seitens der Hirnforschung eindeutig belegt ist, dass die Folgen in vielen Fällen negativ sein werden? Nun, es wäre ja schade, wenn man einen so lukrativen Markt wie die Schulen von den allgemeinen wirtschaftlichen Interessen fernhalten würde. Doch keine Sorge, solange es im System Schule Menschen gibt, die in den Schulen ohne viel nachzudenken ums goldene Digital-Kalb tanzen, wird auch dort weiter der Rubel rollen. Und es sind inzwischen sehr viele Menschen, die ihre digitale Ersatzreligion entdeckt haben.
Nein, auch die Digitalisierung wird nicht dafür sorgen, dass die Bildung in diesem Land wieder einen Sprung nach vorn macht, so leid es mit auch tut, Herr Dulger. Nur bessere Arbeitsbedingungen, mehr Wertschätzung, deutlich mehr Zeit für das Kerngeschäft, deutliche Entlastung von Verwaltungstätigkeiten, entschlackte Lehrpläne und kleinere Lerngruppen würden dafür sorgen, dass zum einen der Lehrberuf wieder attraktiver wird, zum anderen dass tatsächlich eine gute Grundlage gelegt würde, die Bildung wieder voranzubringen oder um es mit den Worten der Neurobiologin Teuchert-Noodt zu sagen: die Schulen wieder auf Niveau zu bringen.
Ja, das kostet Geld, das kostet sogar viel Geld. Geld, das man haben könnte, wenn man es nur wollte, Geld, das es prinzipiell in diesem Land in Hülle und Fülle gibt, aber eben Geld, das sich keine Regierung anzupacken traut. Nicht Schwarz-Gelb, nicht Schwarz-Rot, auch nicht die Ampel. Schade, dass es ganz offenkundig die politischen Entscheider doch nich ganz so ernst meinen mit der Bildung, die im Land der Dichter und Denker doch so eine überragende Bedeutung hat. Sehr, sehr schade, denn es ist doch tatsächlich die einzige Ressource, die wir haben – und dies nicht nur in den Sonntagsreden der Politiker.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Holger Giebel (Vorsitzender des GEW-Kreisverbandes Bergstraße)